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Titel
Scharnierzeit der Entspannungspolitik. Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition (1966–1969)


Autor(en)
Flatten, Maak
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
757 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Judith Michel, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin

Eigentlich, so gab Willy Brandt rückblickend an, habe er 1966 in der Großen Koalition gar nicht Außenminister werden wollen: Wenn er schon in dieser Regierung „dabei sein sollte, dann im Forschungsministerium“.1 Sein politisches Gewicht, seine Funktion als SPD-Parteivorsitzender und seine internationalen Erfahrungen, die er insbesondere als Regierender Bürgermeister von Berlin gesammelt hatte, führten dazu, dass er dann doch das Außenministerium übernahm. Die drei Jahre als Außenminister wurden vielfach als Voraussetzung für Brandts Wahl zum Bundeskanzler und für den Erfolg seiner Ost- und Deutschlandpolitik interpretiert. Auch der Titel von Maak Flattens Dissertation „Scharnierzeit der Entspannungspolitik“ deutet in diese Richtung.

Flattens Studie beschränkt sich jedoch nicht auf die Untersuchung von Brandts Ost- und Deutschlandpolitik, sondern räumt auch der westeuropäischen Einigung und der Bündnispolitik im Rahmen der NATO großen Raum ein und legt die Verschränkung von Ost- und Westpolitik dar. Kurz nimmt Flatten sogar Brandts „‚Weltpolitik‘ im Korsett der Deutschlandpolitik“ (S. 638) in den Blick, weist jedoch zurecht darauf hin, dass der später so engagierte Nord-Süd-Politiker als Außenminister noch kein ausgeprägtes Problembewusstsein für den „globalen Süden“ hatte. Die Ausführungen belegen vielmehr, dass die Nord-Süd-Beziehungen zu dieser Zeit von allen Beteiligten noch ganz durch die Brille des Ost-West-Konflikts betrachtet wurden.

Flatten stützt sich in seiner Arbeit auf die umfangreiche Sekundärliteratur, die inzwischen zu Brandts außenpolitischem Wirken vorliegt. Auch wenn es bislang keine Einzelstudie zu Brandts Außenministerzeit gab, wurden die einschlägigen Politikfelder doch bereits in anderen Publikationen aufgearbeitet. Auch die Quellen, die Flatten ausgewertet hat, sind schon länger zugänglich – neben den publizierten Quellen sind dies insbesondere die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts sowie die Nachlässe von Willy Brandt, von seinem Vertrauten und Leiter des Politischen Planungsstabes im Auswärtigen Amt Egon Bahr sowie von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Darüber hinaus führte Flatten ergänzend eine Reihe von Zeitzeugeninterviews. Auf die – wenigstens punktuelle – Auswertung ausländischer Quellen wurde (mit Ausnahme der Foreign Relations of the United States – FRUS) leider verzichtet. Dies wäre für die angestrebte „mehrdimensionale Sicht auf Willy Brandt als Außenminister“ (S. 24) sicherlich ein Gewinn gewesen. So bietet die Arbeit im Großen und Ganzen keine völlig neuen Erkenntnisse gegenüber dem bisherigen Forschungsstand, wohl aber zeichnet sie ein detailliertes Bild von Brandts Außenministerzeit, setzt mitunter neue Akzente und liefert aufschlussreiche Neuinterpretationen.

Interessant sind die – so bislang in anderen Studien noch nicht herausgearbeiteten – Ausführungen zu Brandts Verhältnis zum Auswärtigen Amt, der Rolle seines Spitzenpersonals, seiner – zurückhaltenden – Personalpolitik und seinem Arbeitsstil. Brandts Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten im Auswärtigen Amt beschreibt Flatten als überwiegend pragmatisch. Für Brandt hatte die neue Ostpolitik Priorität, „was den Maßstab der Loyalität für ihn zu einem wichtigeren machte als den des Verhaltens im Dritten Reich“ (S. 131).

Brandt trat sein Amt zwar mit klaren außenpolitischen Standpunkten an, hatte aber kein fertiges außenpolitisches Konzept in der Tasche. In Bezug auf die westlichen Partner ging es zunächst einmal darum, das zerrüttete Verhältnis zu Frankreich und den USA wieder zu kitten. Brandts Westpolitik zielte auch, aber nicht nur, auf eine Absicherung seiner Entspannungspolitik ab. Eine gestärkte und – insbesondere um Großbritannien – erweiterte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war für ihn ein Schritt zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Willy Brandts und Kurt Georg Kiesingers europapolitische Positionen divergierten an verschiedenen Punkten. Flatten interpretiert „dieses vermeintliche Manko […] als unbeabsichtigtes Erfolgsrezept des Gespanns Kiesinger–Brandt“, da sich „die Diagonale zwischen Brandt und Kiesinger […] als kleinster gemeinsamer Nenner der Sechs“ eignete (S. 219f.).

Auf Bündnisebene war Brandt maßgeblich an der Formulierung des sogenannten Harmel-Berichts beteiligt, der Entspannung und Verteidigungsfähigkeit als gleichgewichtete Ziele der Allianz formulierte. Gegenüber der amerikanischen Sicherheitsmacht enthielt er sich jeglicher öffentlichen Kritik am Vietnamkrieg: „Den Wert des Bündnisses mit den USA schätzte Brandt realistisch höher ein als den eines Ausdrucks moralischer Empörung“ (S. 239). Während Brandt mit dieser Haltung nicht in Konflikt mit seinem Koalitionspartner geriet, entwickelte sich die Auseinandersetzung um den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu einer ernsthaften Belastung für die Große Koalition.

In Bezug auf die neue Ostpolitik widerspricht Flatten einer gängigen Darstellung, Brandt habe lediglich umgesetzt, was sein Adlatus Egon Bahr konzeptionell entworfen habe. Brandt und Bahr seien hier vielmehr „Sparringspartner“ (S. 111) gewesen. Dabei sei Brandt meist weit pragmatischer vorgegangen als Bahr, welcher über eine Art Stufenplan die deutsche Einheit erlangen wollte.

Deutlicher als andere Autoren legt Flatten dar, dass Brandt mit Bundeskanzler Kiesinger keinen ostpolitischen Konsens herstellen konnte. Zwar erkannten beide an, dass Moskau der Hauptadressat der Entspannungsbemühungen sei, die DDR aber auch mit einbezogen werden musste. Brandt wollte sich jedoch nicht zu sehr auf den Dialog mit Moskau beschränken. Auch zeigte er, anders als weite Teile der Union, Bereitschaft, den Status quo in Europa – die Staatlichkeit der DDR und die Oder-Neiße-Grenze – implizit anzuerkennen, um so eine Veränderung des Status quo zu erreichen. „In gewissem Sinne gab es gar keine ‚Ostpolitik der Großen Koalition‘“ (S. 710) – so das Fazit Flattens. Er nimmt das zeitgenössische Narrativ auf, die Unionsparteien hätten als ostpolitische Bremser gewirkt, und widerspricht der von einigen Forschern vertretenen These, die CDU/CSU-Fraktion habe mit ihrer zögerlichen Haltung verhindert, dass einige deutschlandpolitische Positionen unnötig aufgegeben werden mussten. Die sozial-liberale Ostpolitik habe daher nicht auf den Vorarbeiten der Großen Koalition, sondern hauptsächlich auf denen der SPD aufbauen können.

Die detailreichen, aktennahen Ausführungen hätten an mancher Stelle – zum Beispiel im Kapitel über den Atomwaffensperrvertrag – etwas Straffung vertragen. Andererseits sind sie ein Schatz für alle Forschenden, die sich mit Aspekten von Brandts Außenministerzeit intensiver befassen wollen. Zudem bieten das gelungene Fazit und die Bilanz einen sehr guten Überblick der wesentlichen Erkenntnisse. Insgesamt behandelt Maak Flatten mit seiner Studie über Willy Brandts Außenministerzeit einen Aspekt von Brandts Biographie, der zwar bereits in vielen anderen Werken punktuell beleuchtet, jedoch noch nie derart umfassend und systematisch analysiert wurde.

Anmerkung:
1 Willy Brandt, Erinnerungen, 2. Aufl. mit aktuellem Vorwort, Frankfurt am Main 1992 (1. Aufl. 1989), S. 263.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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